Urteilsfähigkeit statt Ideologie:
Schulische Bildung muss zur demokratischen Persönlichkeitsentwicklung beitragen
Stellungnahme des DVPB-Landesverbands Sachsen zum Antrag der sächsischen AfD-Landtagsfraktion “Ökonomie statt Ideologie”
Stellungnahme als pdf herunterladen
Unter dem Titel Ökonomie statt Ideologie: Die Vermittlung eines soliden Wirtschaftswissens in der Schule fördert die Verantwortung junger Menschen für die Zukunft konstatiert die sächsische AfD-Fraktion mangelhafte ökonomische Kenntnisse der Absolventen allgemeinbildender Schulen in Sachsen. Vermeintlich belegt wird diese Aussage mit Verweis auf die oebix-Studie. Hieraus leitet die AfD-Fraktion die Forderung ab, mit Beginn des Schuljahres 2022/23 ein eigenständiges, verpflichtendes Fach „Wirtschaft” ab Klasse 7 einzuführen. Die dafür notwendigen Stunden sollen erstens durch die Entlastung der anderen gesellschaftswissenschaftlichen Fächer von sämtlichen Wirtschaftsthemen, zweitens durch eine Reduzierung der politischen Bildung, insbesondere durch Stundenkürzungen in den Fächern Gemeinschaftskunde/Rechtserziehung (GK, Oberschule) bzw. Gemeinschaftskunde/Rechtserziehung/Wirtschaft (GRW, Gymnasium), gewonnen werden.
Der Landesverband Sachsen der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung (DVPB Sachsen) stellt sich hiermit deutlich gegen sämtliche Forderungen des AfD-Antrags.
Zunächst ist festzustellen, dass die Forderungen der AfD auf einer Aussage beruhen, die sich aus der als Beleg herangeführten Studie nicht ableiten lässt. Über die ökonomischen Kenntnisse von Schülerinnen und Schülern sagt die zitierte oebix-Studie nichts aus. Verglichen wird dort lediglich die Verankerung explizit wirtschaftsbezogener Lehrplaninhalte. Aber selbst, wenn sich diese Aussage belegen ließe, würden die von der AfD geforderten Maßnahmen nicht nur die Zielsetzungen einer qualitativ hochwertigen ökonomischen Bildung selbst unterlaufen, sondern darüber hinaus den demokratischen und gemeinschaftsorientierten Bildungszielen widersprechen, die sowohl durch die sächsische Rechtslage als auch durch bundesweite Vorgaben umrissen sind. Des Weiteren lassen sich aus unserer Sicht didaktische und lerntheoretische Argumente gegen die fachliche Trennung von politischer und ökonomischer Bildung ins Feld führen.
Unsere Ablehnung der im AfD-Antrag gestellten Forderungen soll im Folgenden anhand von fünf Thesen dargestellt und begründet werden.
These 1: Ökonomische Bildung kann nur als Teil einer integrativen gesellschaftswissenschaftlichen und demokratischen Bildung erfolgreich sein
Wirtschaft kann nicht losgelöst von Politik gedacht werden. Wirtschaft ist kein Selbstzweck, sondern dient dem Ziel der Schaffung und Verteilung gesellschaftlichen Wohlstands. Vor diesem Hintergrund können auch ökonomische Bildungsfragen, sofern sie den Zielen von Handlungs- und Sozialkompetenz sowie Persönlichkeitsentwicklung dienen sollen, immer nur in Zusammenhang mit Prozessen der politischen Willensbildung in unserer Demokratie betrachtet werden. Politische Willensbildung aber bedarf einer politischen Urteilsfähigkeit, welche sich über formale Fächergrenzen hinweg auf rechtliche, soziale, ökonomische und politische Perspektiven stützt und diese in einen Dialog miteinander bringt. Der im AfD-Antrag erfolgte Versuch, sozialwissenschaftliche Subdisziplinen gegeneinander auszuspielen und diesbezüglich eine Priorisierung vorzunehmen, kommt daher einem Scheingefecht gleich. Die Wirtschaftswissenschaften sind Teil der sozialwissenschaftlichen Fächerfamilie, deren Subdisziplinen sich nicht umsonst in vielerlei Hinsicht inhaltlich und methodisch überschneiden. Keiner dieser Subdomänen kann es folglich allein gelingen, tragfähige Konzepte für eine zukunftsorientierte Gestaltung unserer Gesellschaft zu entwickeln.
These 2: Die Reduzierung politischer Bildung widerspricht grundlegenden Regelungen und verbindlichen bundesweiten Bildungsstandards
Die hervorgehobene Bedeutung gesellschaftlicher und politischer Bildung in der Schule ist zu Recht zentraler Bestandteil sächsischer wie auch bundesweiter Regelungen und Bildungsziele. So heißt es im Sächsischen Schulgesetz (§1, Abs. 3):
Die schulische Bildung soll zur Entfaltung der Persönlichkeit der Schüler in der Gemeinschaft beitragen. Diesen Auftrag erfüllt die Schule, indem sie den Schülern (…) politisches Verantwortungsbewusstsein, Gerechtigkeit und Achtung vor der Überzeugung des anderen, berufliches Können, soziales Handeln und freiheitliche demokratische Haltung vermittelt, die zur Lebensorientierung und Persönlichkeitsentwicklung sinnstiftend beitragen.
Dieser Absatz stützt sich unmittelbar auf die Sächsische Landesverfassung (Art. 101, Abs. 1) und präzisiert die dort zu Grunde gelegten Bestimmungen. Die Kultusministerkonferenz hebt darüber hinaus die Verbindlichkeit der demokratisch-politischen Bildung als bundesweites Bildungsziel hervor:
Schule kann und soll sich als Ort erweisen, an dem Demokratie als dynamische und ständige Gestaltungsaufgabe – auch im Spannungsfeld unterschiedlicher demokratischer Rechte – reflektiert und gelebt wird. (KMK 2018, S. 2f.)
Lange Zeit galt in Sachsen nicht eine mögliche Unterbelichtung ökonomischer Themen als Problem, sondern der im Bundesvergleich stark unterdurchschnittliche Stellenwert, welcher der politischen und demokratischen Bildung im weiteren Sinne zugestanden wurde. Die zum Schuljahr 2019/2020 erfolgte Anpassung der Lehrpläne und Stunden-tafeln stellt - obgleich spät erfolgt - diesbezüglich einen ersten wichtigen Schritt in die richtige Richtung dar. (Sozio-)ökonomische Bildung stellt einen unverzichtbaren Teilbereich dieser Neuausrichtung dar (so wurde unter anderem der Auseinandersetzung mit der sozialen Marktwirtschaft in diesem Zusammenhang ein sehr viel höherer Stellenwert eingeräumt). Ein separates Unterrichtsfach Wirtschaft auf Kosten der (erneuten) Reduzierung von übergreifenden gesellschaftspolitischen Bildungszielen würde dem gesetzlich verankerten Ziel einer demokratisch, sozial und freiheitlich orientierten Kompetenzbildung nachhaltig schaden.
These 3: Eine Bildung für nachhaltige Entwicklung ist ohne sozioökonomische Bildung nicht möglich
Das Eckwertepapier “Bildung für nachhaltige Entwicklung” (Landesamt für Schule und Bildung 2019), gemeinsam mit der Sächsischen Landesstrategie Bildung für nachhaltige Entwicklung erkennt die zentrale Bedeutung einer Nachhaltigkeitsbildung in sächsischen Schulen an, um gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt auch mittel- und langfristig zu ermöglichen und konstatiert:
Eine nachhaltige Entwicklung berücksichtigt demnach die ökologische, die soziale und die ökonomische Dimension gleichermaßen und auf allen Ebenen von lokal über regional bis global. (LaSuB 2019, S. 5)
Wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Fortschritt erfordern nicht allein fachspezifische Kenntnisse, sondern beruhen darüber hinaus auf einem individuellen und kollektiven Verantwortungsbewusstsein. Dieses lässt sich wiederum nur auf Grundlage eines breiter angelegten Verständnisses sozio- und politökonomischer Strukturen und darauf beruhender Urteilsfähigkeit entwickeln. Sowohl die Herauslösung wirtschaftsbezogener Themen aus anderen gesellschaftswissenschaftlichen Fächern, die Reduzierung der Stundentafeln für politische Bildung als auch die von der AfD geforderte “Streichung von Lehrplaninhalten, welche der sogenannten Positionierung dienen sollen”, unterlaufen diese Zielsetzung grundlegend.
These 4: Die Reduzierung ökonomischer Kompetenzen auf betriebswirtschaftliches Wissen untergräbt gemeinschafts-bezogene Wertvorstellungen
Der Antrag konstatiert die “Politiklastigkeit wirtschaftlicher Themen zum Nachteil von weiterführendem Wirtschaftswissen”. Was unter “weiterführendem Wirtschaftswissen” zu verstehen ist, wird im Antrag hingegen nicht definiert. Implizit lässt sich aus dem Antrag jedoch ableiten, dass hier eine Form wirtschaftlicher Bildung angezielt wird, welche polit- und sozioökonomische Fragestellungen größtenteils ausblendet und sich weitestgehend auf ein betriebswirtschaftliches Unternehmer- und Verbraucherwissen beschränkt. Wirtschaftswissen wird somit als betriebswirtschaftliche Handlungskompetenz verstanden, welche nicht nur die eigenen ökonomischen Handlungen, sondern auch die Tätigkeiten ganzer Unternehmen und Volkswirtschaften aus ihrem gesellschaftlichen Kontext reißt. Damit wird ökonomisches Handeln letztlich als ausschließlich gewinn- und nutzenorientierte Perspektive definiert und egoistisches Wettbewerbsdenken zu Lasten von Sozialkompetenz gefördert. Es ist zudem äußerst fraglich und keineswegs plausibel, dass ein in diese Richtung gefördertes Wirtschaftswissen tatsächlich – wie von der AfD in der Antragsbegründung impliziert – die Zahl der Unternehmensgründungen in Sachsen positiv beeinflussen würde.
These 5: Bereits jetzt werden sozioökonomische Fragestellungen in den Lehrplänen tendenziellunterbelichtet
Mindestens für die Oberschule lässt sich festhalten, dass der weitaus größte Anteil ökonomischer Bildung im Fach Wirtschaft-Technik-Haushalt/Soziales (WTH/S) angesiedelt ist. Die wirtschaftsbezogenen Anteile beziehen sich hier schon heute – ganz im Sinne des AfD-Antrags – größtenteils auf Verbraucherbildung sowie die Vermittlung betriebswirtschaftlicher Grundlagen. Obwohl explizit vorgesehen, führt die konkrete Ausgestaltung des Lehrplans eher dazu, dass die insbesondere in den Eckwertepapieren “Bildung für nachhaltige Entwicklung” und “Politische Bildung” eingeforderten Ziele oft nicht ausreichend umgesetzt werden. Kritische Perspektiven und Debatten, welche ein breiteres Verständnis ökonomischer Zusammenhänge fördern und zur Herausbildung von Urteilsfähigkeit beitragen, werden mehrheitlich in die Fächer Ethik und Gemeinschaftskunde ausgelagert. Bereits jetzt wirkt diese fachdidaktisch nicht begründbare Trennung in Einzeldomänen kontraproduktiv, indem sie den Schülerinnen und Schülern unnötigerweise den Verständnisprozess sowie den Zugang zu einer eigenen fundierten Einschätzung von gesellschaftlichen Zusammenhängen erschwert.
Schlussfolgerungen
Die DVPB Sachsen erkennt die herausragende Bedeutung einer ökonomischen Bildung in den allgemeinbildenden Schulen an. Genauso wie wirtschaftsbezogene Fragestellungen nicht losgelöst von ihrem gesellschaftlichen und politökonomischen Kontext behandelt werden können, lässt sich auch politische Bildung nicht betreiben, ohne wirtschaftlichen Fragen einen gewichtigen Stellenwert einzuräumen. Innerhalb der Fachdidaktiken werden hierzu seit Jahren wichtige und konstruktive Debatten geführt (z.B. Engartner/Krisanthan 2017). Der Antrag der sächsischen AfD-Landtagsfraktion erweckt hingegen eher den Anschein, als ob hier unter dem Deckmantel der Forderung nach Wirtschaftskompetenz ein Angriff auf die politische Bildung gestartet werden soll. Indem der Antrag ein von unterschiedlichen wirtschaftlichen Interessenverbänden wiederholt erhobenes Ansinnen aufgreift, konstruiert er vermeintliche Anschlussfähigkeit. Sowohl die vorgetragenen Forderungen als auch ihre Begründungen werden jedoch der Komplexität sozioökonomischer Bildungsprozesse nicht im Ansatz gerecht, ignorieren den Stand didaktischer und lerntheoretischer Forschung und stehen im Widerspruch zu zentralen Elementen sächsischer und bundesweiter Bildungsziele.